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Geschichten

Eine kleine Auswahl literarischer Arbeiten von Autorinnen und Autoren aus Altendorf.

Zeichnungen von Walter Reichmuth, Lachen 

Ein Ausflug von Martin Keller

Wo kam denn plötzlich diese Lok her, diese gewaltige Dampflokomotive, auf dem Gleis, das vom Bilstenhof zum Wasserschloss hinaufführt? Sie schnaubt ungeduldig. Angehängt sind altertümliche, bequeme Erstklasswagen (Pullman? Sind das nun so genannte Pullmanwagen?). Ich besteige ein Abteil: Nussbaumholz, Jugendstillämpchen, rote, abgewetzte Plüschfauteuils, das weisse Deckchen speckig, und es braucht doch etwas Überwindung, mich «wohlig zurückzulehnen». Ich bin allein. Die untergehende Sonne vergoldet die Alpweiden gegen den Etzel zu, ein fauchender Dampfstoss, ein Ruck, es geht aufwärts. Unter mir öffnet sich der weite Blick auf den Zürichsee, schillerndes Farbenspiel darauf - man bekommt Lust hinunter zu springen. Rechts neben mir die grossen Röhren der Altendörfler, links struppiges Nadelholz.

Der Zug hält auf dem Plateau, und wenn ich den Kopf wende, steigt aus dem dunklen Wasserspiegel das weisse Wasserschloss auf, die Türmchen und Zinnen vom letzten Sonnenstrahl verzaubert. Ich löse den Ledergurt, der das Wagenfenster festhält, und lehne hinaus, um besser zu sehen: die herrliche Gartenanlage mit ihren Springbrunnen und Marmorbildern, mit ihren Grotten und Hirschgehegen (Hirschgehege - befinden die sich denn nicht hinten, in der Steinegg?). In den noch warmen Abendhauch mischen sich Kohlenrauch und Rosenduft, ferne ertönen die verwischten Klänge eines Menuetts. Träume ich? Oder steigen wirklich glänzende Nixen aus der Tiefe zu den Grundmauern des Wasserschlosses empor, wunderbare Gestalten, angezogen vom Zauber der Musik? Ich stehe am Fenster, traumversunken, staune, staune.

Es hat rasch eingedunkelt, plötzlich zucken Scheinwerfer auf und hüllen die prächtige Schlossanlage in einen blendend hellen Schleier. Elektrisch werden sie gratis beziehen, geht mir durch den Kopf, vom Etzelwerk. Ein Pfiff der Lokomotive, ein Ruck, Rauchschwaden dringen herein, schnell schliesse ich das Fenster. Nein, wir fahren nicht hinunter, sondern weiter hangaufwärts - wusste gar nicht, dass sich die Bahnstrecke hier fortsetzt, doch ich bin vollauf beschäftigt, ein quälendes Kohlenpartikel aus dem tränenden Auge herauszureiben ...

Auf der Krete angelangt, halten wir links, silbern legt die Seesichel ihren Schwung in die Tiefe, überstrahlt vom Sterngefunkel, jenseits ahnt man die Horizontlinie des Bachtels. Wenn jetzt eine Sternschnuppe fiele, was soll ich mir, um Gotteswillen, wünschen? Was? Zu spät: sie hat ihren Lauf schon beendet... Bei der Station «Höhgaden» steigen mehrere Menschen aus - ach so, ein Speisewagen war da hinten angehängt?-, Männer in dunkelblauen Anzügen und feinledernen Aktenkoffern, manche werden von schönen Frauen und appetitlichen Kindern zärtlich empfangen. Die gekräuselten Wasserflächen der Swimmingpools blinken hinauf, Gartensitzplätze sind von warmen Lampen erleuchtet, Gelächter und der Duft nach gegrilltem Fleisch liegen in der Luft, und plötzlich verspüre ich selber mächtigen Appetit. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, fährt abwärts. Neben mir wachsen weitarmige Giganten in den Himmel: die Masten der Starkstromleitung. Bei der nächsten Haltestelle, der «Burg», verlasse ich das behagliche Coupe.

Wie trotzig und siegessicher steht sie da, die gewaltige Johannesburg! Ein uneinnehmbares Bollwerk mit ihrem massiven Mauerwerk, dem Burgfried, den Kanonen hinter den Schiessscharfen. Der steinerne Turm blickt stumm - und etwas beleidigt - Richtung Rapperswil. Hat die Trennung von der ein gebildeten Tochter offenbar noch immer nicht verwunden. Ich spaziere an diesem archaischen Koloss vorüber; dunkle Gestalten bewachen den Eingang, haben sich gar hinter Stacheldraht eingeschanzt - seh' ich recht? Soldaten im Kampfsack, Vorsicht, die Wachen tragen bekanntlich ein scharf geladenes Sturmgewehr! Warum verbringen die den WK hier oben und nicht im Schulareal? Sollte das frisch renovierte Schulhaus zu schade sein fürs Militär?? Nun, mir kann's gleichgültig sein, ich wende mich entschlossenen Schritts dem liebenswürdigen Hotel «Johannisburg» zu, freue mich an den verspielten Wandgemälden und am Kronleuchter, der sich unter der Deckenstuckatur wichtig macht. Flinke Kellner bedienen die gepflegten Gäste, und vom ersten Stockwerk herunter höre ich festliche Walzermelodien der Tanzkapelle. Ich finde einen freien Tisch an einem der grossen Fenster und lasse mir das Abendbrot schmecken - nebst einer Flasche Johannisburger, versteht sich! Der «March-Anzeiger» ist schnell durchgeblättert, der «Bote» noch schneller. Ein alter Mann setzt sich zu mir, ein Einheimischer, und wir unterhalten uns über Handel und Wandel; im Fensterglas spiegelt sich seine Schirmmütze; das erkaltete Pfeifchen im zahnlosen Mund, erzählt er mir von den Fortschritten der Feuerwehr. Als ich endlich aufbreche, ist es Nacht geworden, eine ziemlich fette Mondomelette steht am Firmament, und ich wundere mich: wo liegt Altendorf? Ich kann keine Lichter erkennen, eine breite Schwärze lagert da unten.

Immerhin: Stimmungsvolle Gaslaternen erleuchten die Burggasse. Überhaupt lädt diese behagliche Gasse mit ihrem Kopfsteinpflaster und ihren bequemen Treppen zum Bummeln ein. Links und rechts von gotischen Häusern gesäumt, mit Erkern und Butzenscheiben, führt mich die Gasse abwärts zum Dorf.

Aber ehe ich es erreiche, geschieht Unerklärliches, Erschreckendes. Plötzlich verschwindet der Sternenhimmel, weggetaucht ist der Mond, Finsternis umfängt mich und dröhnender Lärm. In mässiger Entfernung rasen Lichtspuren vorüber. Ich bin eingemauert in einem riesigen Betonbunker, in einer gigantischen Halle, finde in der gräulich stinkenden Nebelluft kaum Atem. Eine Anzahl gesichtsloser Wohnblocks tauchen darin auf, links meine ich den Kirchturm zu erkennen, den Friedhof, doch der gemeine Motorenlärm bohrt sich in alle Sinne hinein, krallt sich fest, ich kann nichts mehr begreifen. Über mir öffnet sich ein mächtiger Kamin, ungeheure Pumpmaschinen brüllen, die Schmutzschwaden wirbeln zur Decke. «Das Autobahndach», fährt es mir mit jähem Schreck durch die Glieder, «man hat es zu weit oben angebracht! Wir sind eingeschlossen, eingedeckelt, eingesargt!» Mein Heulen geht im Lärm unter. Meine Augen tränen. Und nun freu' ich mich doch aufs Erwachen.



 

Die Konferenz der Schutzgeister von Martin Meier

Der Föhn war gegen Abend zusammengebrochen, und über dem Etzel türmten sich schwarze Wolken auf. Ein eisiger Wind pfiff. Bereits wirbelten die ersten Schneeflocken des kommenden Winters durch die Luft. Petra beeilte sich. Sie musste unbedingt oben sein, ehe das Unwetter richtig losbrach. Nicht ihretwegen, nein, an sich dachte sie überhaupt nicht. Nur das Kätzchen wollte sie retten, unbedingt! Das Tier musste ja erfrieren oder verhungern, so ganz allein da oben in der Alphütte auf Längmoos.

Petra hatte den Weg heute schon einmal gemacht, als sie mit ihrer Mutter das herrliche Spätherbstwetter zu einer langen Wanderung durch ihre neue Heimat ausgenutzt hatte. Schön war's gewesen, so hoch über dem Dorf und dem stahlblauen See, viel schöner als in den engen Strassen der Stadt, wo sie bis dahin gewohnt hatte.

Dann hatte sie in der Alphütte das Miauen gehört, ganz deutlich! Aber sosehr sie sich auch bemühte, das Kätzchen hatte sie nicht gefunden. Es musste irgendwo eingeklemmt sein, denn es schrie erbärmlich. Frau Rhyner, Petras Mutter, meinte schliesslich, die Katze werde sich schon zu helfen wissen. Petra bezweifelte das sehr. Deshalb schlich sie nachts heimlich aus dem Haus und machte sich nochmals auf den Weg zur Alphütte, um das arme Tier zu retten.

Bis zum Dänisried ging's noch einigermassen, doch dann fiel der Wind mit solcher Gewalt über das Land her, dass Petra kaum mehr vorwärts kam. Ausserdem schneite es jetzt schwere, nasse Flocken. Der Strahl ihrer Taschenlampe reichte kaum zwei, drei Meter weit. In den Bäumen des Autis-Waldes ächzte und stöhnte es. Das kleine Mädchen bekam es mit der Angst zu tun, doch tapfer kämpfte es sich durch das Unwetter und erreichte schliesslich die sturmgepeitschte Höhe des Längmoos. Petra hatte Glück. Die Türe der Alphütte war nur angelehnt. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in das alte Holzhaus, das unter der Wucht des Schneesturmes erzitterte.

Kaum hatte sie ein wenig Atem geschöpft, liess sie den Lichtkegel ihrer Taschenlampe umgehen und lockte schmeichelnd: «Komm, Kätzchen, komm, Büsi, Büsi!» Indessen war von einer Katze weder etwas zu sehen noch zu hören. Nur der Sturm brauste unablässig ums Haus. Petra suchte in allen Winkeln und Ritzen, bis ihr die Augen schier zufielen vor Müdigkeit. Die Alphütte war denkbar einfach eingerichtet: Ein einziger grosser Raum mit einer Feuerstelle, ein mächtiger Eichentisch, ein Geschirrschrank und eine Leiter, die auf den Heuboden hinaufführte.

Petra beschloss, noch diesen Heuboden nach der verschwundenen Katze abzusuchen. Sie stieg die Leiter empor, kletterte ins duftende Heu... und vermochte der Versuchung nicht länger zu widerstehen: Sie kuschelte sich fest ein und war im selben Augenblick fast schon eingenickt.

Wie lange mochte sie geschlafen haben? Auf einmal schien sie jedenfalls hell wach zu sein. Sie hörte schwere Tritte durch den Schnee auf die Alphütte zukommen. Krachend sprang die Türe auf. Petra verkroch sich vor Angst noch tiefer ins Heu. Da bemerkte sie ein Loch im Holzboden, durch welches Licht zu ihr nach oben drang. Durch das Guckloch erkannte sie unter sich den schweren Eichentisch, an dem - ihre Haare sträubten sich - eine mächtige Gestalt in einer Ritterrüstung Platz genommen hatte. Im Kamin prasselte ein Feuer, das den Raum erhellte und gespenstische Schatten warf.

Bald darauf hörte das kleine Mädchen erneut Schritte, wieder öffnete sich die Tür, und mit stummem Gruss setzte sich ein Mann in einer groben Mönchskutte an den Tisch. Zwei Raben sassen ihm auf den Schultern, und Petra war es, als ob die beiden Vögel genau zu ihr hinauf starrten. Schliesslich erschien noch ein altes Weiblein in einfachen, altmodischen Kleidern, aber mit einem gütigen Ausdruck in ihren runzligen Gesicht.

Die Runde schien vollzählig zu sein, denn der Ritter setzte seinen Helm ab, so dass Petra sein Wettergebräuntes Gesicht, die graublauen Augen, die sowohl Güte als auch Entschlossenheit ausdrückten, und den langen, grauen Bart zu erkennen vermochte, und begann mit feierlicher Stimme: «Ich begrüsse Euch, werte Freunde und Kollegen, und erkläre die diesjährige Konferenz der Schutzgeister von Altendorf für eröffnet. Um es vorweg zu nehmen: Unsere Arbeit wird immer schwieriger. Das Dorf wächst, aber der Glaube an uns nimmt ab. Die Neuzuzüger wissen nichts von uns, das Dorf verliert seinen Charakter. Wie sollen wir da die Bewohner noch beschützen? Vater Meinrad, was meint Ihr dazu?»

Der Mönch räusperte sich ein wenig, ehe er mit leiser, trauriger Stimme zu sprechen begann: «Leider ist es so, wie Ihr sagt, Graf Eticho. Das Dorf wächst, ja. Aber es ist nicht mehr das Dorf, das Ihr gegründet habt. Auf den Höhen ringsum, da findet Ihr sie vereinzelt noch, die Nachfahren Eurer Herrschaftsleute, die alten Altendörfler. Aber unten im Tal... Doch hört selbst: Neulich konnte ich zwei junge Mädchen belauschen. Sie redeten in einer merkwürdigen Sprache, nicht unähnlich jener, derer sich die angelsächsischen Pilger zu Einsiedeln zu bedienen pflegen, aber doch wieder anders. jedenfalls verstand ich kaum ein Wort. <Du, das isch dänn gäil gsii, wiä dä Mischa gsmilet hätt bim Dance. Ich bin nachetane no mit ihm ga fuude!> Versteht Ihr das, Herr Graf?»

Jetzt mischte sich zum ersten Mal das alte Mütterchen ein, das bisher geschwiegen hatte, und lächelte mild: «0 ja, ich verstehe das schon. Das Mädchen wollte sagen, dass ihr Michaels Lächeln gefallen habe und dass sie nachher noch mit ihm essen gegangen sei.» - «Warum sagte sie es nicht so, Witwe Friedlos? So hat man in Altendorf doch noch nie gesprochen!» fuhr Graf Eticho polternd dazwischen. Seufzend fuhr er fort: «Wenn's nur die Sprache wäre! Mir macht am meisten Kummer, dass Altendorf nach und nach zu einer Kolonie Zürichs wird. Was diesen Herren aus der Stadt während Jahrhunderten im Krieg nie gelungen ist, nämlich mein... eh unser... Dorf zu erobern, das tun ihre Nachfahren jetzt mit <friedlichen> Mitteln. Sie stellen ihre Prunkhäuser auf, lassen sich hier nieder und benehmen sich, wie wenn sie die Herren wären!»

«Was man», warf nun der heilige Meinrad ein, «wiederum am besten an der Sprache sehen kann! Die Kinder, die noch <Jou> und <Strouss> und <Brout> sagen, werden in der Schule ausgelacht! Stellt Euch vor: ausgelacht, weil sie so sprechen, wie man es hierzulande seit jeher getan hat! <Ankä> und <Nydel> kennt schon fast niemand mehr, es heisst jetzt vornehm <Butter> und <Rahm>. Und meint Ihr etwa, diese Stadtmenschen ehrten wenigstens den Herrgott nach altem Recht und Brauch? In der kommt. Haltet Sorge zu Eurem Dorf, lasst es nicht zur seelenlosen Vorstadt verkommen. Behaltet vor allem Euren Geist und Charakter. Wer neu ins Dorf zieht, soll freundlich aufgenommen werden, im Gegenzug aber die Sitten und Gebräuche, die Sprache und die Art der Einheimischen respektieren. Und denkt daran: Über Euch Menschlein ist der, welcher alles gemacht hat, ohne den kein Spatz vom Himmel fällt und kein Haar grau wird.» Dabei blickte er schmunzelnd auf seinen Bart. «Solange Ihr das nicht vergesst, kann's nicht fehlen!»

Die Witwe Friedlos fügte schliesslich bei: «Geh, Petra, und erzähle allen im Dorf, was Du erlebt, gesehen und gehört hast. Sag den Leuten, dass wir noch da sind und Glück und Segen über Altendorf bringen. Geh, kleines Mädchen, geh, und leb' wohl...!»

Petra wurde es schwarz vor den Augen. Ein Schwindel erfasste sie. Nur undeutlich erkannte sie, wie sich die drei Geister in Luft auflösten. Erst als das helle Morgenlicht in die Alphütte drang, erwachte sie wieder, und zwar schön zugedeckt auf ihrem Heulager. Der Sturm hatte sich gelegt, ein herrlicher Tag brach an, und die Sonne ging leuchtend über dem Obersee auf.

Da hörte sie es ganz deutlich: Ein klägliches Miauen! Petra ging dem Ton nach und fand eine kleine, magere Tigerkatze im Holzschopf neben der Alphütte. Sorgfältig bettete sie das Tier in ihre Arme und begann den Abstieg.


Es war einmal, vor 45 Jahren von Annelies Inglin-Ruegg

Mama sass auf dem Stubentisch und nähte. Hier, im Lichtkreis unter dem Lampenschirm, war der hellste Platz in der Wohnung. Trotzdem trug sie noch Grossmutters (Gott hab sie selig) Brille mit dem biegsamen Gestell und den kleinen blauen Gläsern ganz vorn auf ihrer Nase. Niemals sprach sie von einer verstorbenen Person ohne: «Gott hab sie oder ihn selig» anzufügen. Die Gewohnheit, dies in Gedanken ebenfalls zu tun, habe ich, wie so vieles, von ihr übernommen.

Mama also schaute über die Brille hinweg zu mir, die ich zum x-ten Mal mein Gedicht aus dem Drittklasslesebuch stolpernd vor mich hin sprach: «Am Wegrand, wo s'Kapellchen steht, da schaut weit übers Land hinaus ein Giebeldach, mein Vaterhaus.»

«Bei uns ist es doch eher ein Mutterhaus, nicht, Mama?» fragte ich sie, «du bist doch mehr zu Hause als Papa.» Sie aber belehrte mich, dass dieses Haus weder ein Vater- noch ein Mutterhaus sei, sondern ein Miethaus. Tatsächlich gehörte das Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnten, einem alten Mann aus Zug, der jeden Monat einmal mit seinem schwarzen Fiat aufkreuzte und uns alle, jung und alt, in «Chlupf und Schrecken» versetzte. Er lief ums ganze Haus, betrat nörgelnd jedes Zimmer, flickte da einen Riss in der Wand und klebte dort ein Stück Tapete an. Ein Glück, wenn Papa nicht zu Hause war, sonst gab's laute Worte. Kein Ballspiel, Versteckis oder Fangis für uns! Bis zur Entwarnung gab es hier nur noch Sonntagskinder.

Jeden zweiten Monat kam noch ein anderes Auto angefahren, wenn die zwei Frauen des Modehauses Löwenstein bei Mama die fertigen Kleider abholten und die zugeschnittenen Stoffteile für die nächste Serie brachten. Deshalb musste Mama unter der Stubenlampe nähen bis spät in die Nacht hinein. Weil sie damals noch keine «Zick-Zack-Maschine» besass, mussten wir Kinder von Hand die Nähte umfahren, auch mein Bruder konnte sich davor nicht drücken, denn Mama hatte auch sonst sehr viel zu tun. Neben dem Haushalt half sie Papa bei Büroarbeiten und fertigte alle unsere Kleider an. Einmal trennte sie sogar Papas alte Sonntagskleidung auf, drehte die Innenseite des Stoffes nach aussen und nähte sie wieder zusammen. Es wurde eine sehr schöne Kleidung daraus. Als ihm dann während einem Fussballmatch ein erboster Mitzuschauer zurief: «Bis doch schtill, du mit dinere Zällwulleschale» empfanden wir das als die grösste Beleidigung, die je einem unserer Familienmitglieder angetan wurde.

Um aber auf die beiden Modedamen zurückzukommen, sie waren immer sehr zufrieden mit «unserer» Arbeit. Glücklich über den bescheidenen Zahltag, stellte ihnen Mama eine Pfanne voll frischer Spiegeleier auf den Tisch, und es schien, als hätten sie in der Stadt niemals etwas Besseres auf dem Teller gehabt. Später winkten wir ihnen noch lange nach, wenn sie mit ihrem Auto hinter einer Staubwolke verschwanden.

Da wirbelten die anderen Fahr- und Fuhrwerke, die täglich auf unserer Quartierstrasse verkehrten, viel weniger Staub auf. Eine Kuh vor den «Horeschlitten» gespannt, im Sommer wie im Winter, geleitete die Grossmutter Krieg (Gott habe diese gute Frau selig) das gemütliche Gefährt zwischen ihrem Heimet und dem Zweigstall im Harzer hin und her. Die Kufen quietschten auf den Steinen, und wenn ich mir die Ohren nicht zuhielt, gab'sauf meinen Armen eine Hühnerhaut. Manchmal sprühten sogar Funken. Trotzdem lief ich gerne hinter Frau Krieg her und fragte sie: «Wo gosch hi?» «Uf Paris», sagte sie augenzwinkernd, und wir lachten beide. Wusste ich doch längst, wohin sie fuhr. Zur Holzlegi hinauf, wo heute der Schlammsammler des Chatzenbachs ist, dort über die Brücke und durchs Wäldli bis zur Quelle, die am Fuss des Hügels entsprang. Hier stellte sie oft die «Ankenmaschine» in das Wasser, das auch im heissesten Sommer eiskalt blieb. So wurde dann der «Nidle» schneller fest.

Einmal pro Woche pedalte der Metzgerausläufer mit seinem schwarzen Velo daher. In der Chräze hielt er Landjäger und andere Wurstwaren feil, und manchmal schenkte er uns Kindern ein «Rädli». Die Bäcker hingegen fuhren mit Ross und Wagen vor. Sie brachten Brot und Guezli, Biberfladen und Birnenweggen. Wenn Mama es machen konnte, kaufte sie uns hie und da ein Zehnerstückli oder gar einen Nussgipfel. Der frische Zweipfünder verschwand aber sofort auf dem Schlafzimmerschrank, und der letztwöchige kam auf den Tisch. So reichte das Brot länger und machte kein Bauchweh.

Am Freitag gab's Wähen. Die liess frau oft beim Bäcker backen, weil die alten Holzkochherde in den Küchen nicht sehr geeignet dazu waren. Was aber oben drauf kam, auf die Wähen, das wollten die Altendorfer Frauen selber bestimmen. So sah man am Freitagmorgen die Schulkinder ein Chesseli voll «Gilbi» zum Bäcker tragen, und nach der Schule holten sie dort die fertige Wähe ab. Diese heimzutragen war nicht immer leicht in einem so weitläufigen und hügeligen Dorf. Mein Schulweg führte der Landstrasse nach bis zum Hirschen, dann einem Lebhag entlang auf einer einspurigen Naturstrasse beim Chölli vorbei bis zum Restaurant Brüggli und dann noch gut zehn Minuten über einen Feldweg. Heute verläuft da die Autobahn mit vier Spuren und dazu noch beidseitig je eine doppelspurige Verkehrsstrasse, die alle rege befahren werden. Und nirgends ein Fussgängerweg, wo ein Kind sicher und ungestört eine Wähe oder sonst etwas nach Hause tragen könnte. Ja, ja, der Fortschritt! Oft ist er Fluch und manchmal Segen, und leider schwerlich einzuschränken.


Der Burggeist von Walter Fleischmann

Mit Altendorf hatte ich damals wenig am Hut. Wer in Lachen geboren und dort als Kind und Jugendlicher die 40er und 50er Jahre verbracht hatte, mochte bestenfalls etwas hochnäsige Sympathie für die Bewohner seiner Nachbargemeinden empfinden. In dieser Sympathie schwang jedoch eine Prise des Bedauerns mit, ging jenen doch das Privileg, Lachner zu sein, ab. Meine Bürgerrechtszugehörigkeit zu Altendorf war mir noch gar nicht bewusst. Sonst hätte ich sie im Vergleich zu einem echten Lachner Bürger wohl eher als Nachteil empfunden. Und dennoch ergaben sich aus der unmittelbaren Nachbarschaft bereits einige Berührungspunkte.

So führte der häufigste sonntägliche Familienspaziergang - ein solcher war zu jener Zeit noch üblich - über die Johannesburg. Ich mochte diesen Aussichtspunkt und benützte die Rast auch gerne für ein kurzes Verweilen in der Kapelle. Eines Tages verfielen meine älteren Brüder jedoch auf eine Idee, welche es mir für einige Zeit ratsam erscheinen liess, die Einkehr in der idyllisch gelegenen Kultstätte zu unterlassen. Sie erdichteten einen Burggeist und gaben vor, dieser sperre kleine Jungen, welche den Anordnungen ihrer älteren Geschwister nicht prompt Folge leisteten, in den Turm ein. Öfters schon hätten Vorbeigehende von Klageschreien der betroffenen Opfer berichtet. Um die Wirkung ihrer Worte noch zu vergrössern, ahmten sie die gequälten Rufe der Gepeinigten nach. Wahrscheinlich handle es sich um eine arme Seele, welche im Zuge der Zerstörung des Schlosses Rapperswil und der Burg Alt-Rapperswil durch die Zürcher den ewigen Frieden nicht gefunden habe und nun dazu verdammt sei, hier ihr Unwesen zu treiben. Durch effektvolles Zusammenspiel nützten meine Brüder die kindliche Unbefangenheit ihres Benjamins schamlos aus und amüsierten sich darob köstlich. Weil ich die scheinbar ernsthaft vorgetragenen Begebenheiten nicht in Zweifel zu ziehen vermochte, suchte ich in gebührendem Respekt vor diesen unbekannten Mächten die Nähe meiner Brüder auf und fand erst Erleichterung, wenn wir dem Einflussbereich des unheimlichen Burggeistes entronnen waren.

Wählten wir den Rückweg über die Chälen, kehrten wir manchmal im Gasthaus ein. Zumeist aber liessen wir diese Einkehrmöglichkeit ungenutzt verstreichen. Wir wussten, dass die Bäsi in der Acheren stets ein Glas Most für uns bereithielt. Frisch gestärkt pflegten wir dann unsere Wanderung bis zur Seestatt fortzusetzen, wo uns Tante Fine und Onkel Wisi aufgeräumt begrüssten und sich nach den jüngsten Neuigkeiten aus dem Märchler Hauptort erkundigten. Im Sommer naschten wir Johannisbeeren von den üppig tragenden Sträuchern. Nie gingen wir weg, ohne reichlich von Fine's Malzbonbons gelutscht zu haben. Onkel Wisi's Werkstatt zog unser Interesse auf sich. Während seines bescheidenen Lebens band er unter Verwendung alter Gerätschaften die Schulhefte unzähliger Kinder zu dicken Büchern. Die Attraktion des alten Häuschens bildete jedoch das Plumpsklosett. Die äusserst einfache Vorrichtung leistete uns mehr als einmal gute Dienste, nachdem wir auf der Acheren allzu reichlich dem süssen Most zugesprochen hatten.

Im Frühjahr führte mich jeweilen die Flurprozession nach Altendorf. Nach dem mehr oder weniger andächtigen Beten, manchmal unterbrochen von einem Blick nach den mitmarschierenden Mädchen, konnte ich dem verführerischen Duft aus Knobels Backstube nicht widerstehen. Am St. Johannstag besuchten wir den Gottesdienst auf dem Burghügel. Die im Freien zelebrierte Messe in der frühsommerlichen Natur wurde noch kaum gestört von herauf dröhnendem Verkehrslärm.

Begehe ich heute den Weg zur Johannesburg, denke ich manchmal mit leiser Melancholie an diese Jugenderinnerungen zurück. Nun durchschneidet die Autobahn das Gelände zwischen Burg und See. Der alte Gasthof ist einem neuen Betrieb gewichen; das baufällige Haus nebenan wurde dem Erdboden gleichgemacht. Futuristisch anmutende Werkhallen zeugen von wirtschaftlichem Fortschritt. Inmitten des Einfamilienhaus-Quartiers erinnert nurmehr das restaurierte Schwyzer Haus den kundigen Betrachter an das einstige Bauerngut. Überall sind Zeichen der Wohlhabenheit auszumachen. Doch wäre es richtig, mit Wehmut an die so genannte gute alte Zeit zurückzudenken? Die Prosperität brachte soziale Errungenschaften wie das neue Alters- und Pflegeheim, moderne Ausbildungsstätten, das Dorfzentrum und anderes mehr. Mit dem Wiederanbau von Reben am Burghügel erlebt sogar ei ne alte Tradition ihre Renaissance. Und die Hoffnung bleibt bestehen, dass mit der Realisierung der Autobahn-Überdachung die negativen Auswirkungen planerischer Versäumnisse wenigstens teilweise behoben werden können.

Dass ich meine Zelte in Lachen abbrechen und in Altendorf Wurzeln schlagen würde, konnte ich damals noch nicht ahnen. Der Kreis wird sich auf dem Friedhof schliessen. Ob im alten Dorf oder in Altendorf als neuem Dorf, diese Frage verkommt letztlich zur Bedeutungslosig-keit. Nur als Geist auf der Johannesburg möchte ich nicht enden.


«Mein» Wald von Katia Marty

Wenn ich das Wort «Wald» höre, so kommt mir automatisch «mein» Wald, neben unserem Haus in der Steinegg, in den Sinn. Ich habe schon so vieles, Schönes mit und in unserm Wald erlebt, dass ich eigentlich sehr gerne eine kleine Liebeserklärung an ihn machen möchte, und ich möchte damit allen sagen, dass es ihn noch gibt: den Erholungsraum und, wie ich glaube, den hier grösstenteils recht gesunden Wald.

Schon als ganz kleines Kind nahmen mich meine Eltern auf (sonntägliche Spaziergänge mit dem Hund mit. Für mich war's meist geheimnisvoll; der Wald barg soviel Unbekanntes, Spannendes, das wir Steineggkinder, eine «dicke» Bande, gerne entdecken wollten.

Oft ging ich auch mit Papi und dem Hund neue Wege erforschen. Einmal sind wir «ganz weit» den Wald hochgelaufen, es war ein richtiger Märchenweg für mich. Es gab keine anderen Menschen mehr, nur viele farbige Pflanzen, grosse Bäume, Felsstücke, den Bach, der immer verwilderter wurde und dann plötzlich, mitten im Wald-eine Lichtung, eine wunder-schöne Wiese, und alles schien verzaubert. Von da an freute ich mich immer besonders auf den Sonntag, denn dann wanderten Papi und ich wieder «'s neue Wägli», und es war jedes Mal wieder aufregend und märchenhaft. Damals war mein riesiger Wunsch (und ich glaubte auch daran), einmal auf Zwerge und Elfen zu stossen...

Ich kann mir meine Kindheit kaum vorstellen ohne diesen Wald. Er gab und gibt mir soviel her, und ich freue mich für die Tiere, die darin leben, für die der Wald Lebensraum ist und die sich in «unserem» Wald auch wohlfühlen können. Natürlich - der Schiessplatz ist kein Paradebeispiel für einen stillen Wald, aber sieht man davon einmal ab und wandert eine Viertelstunde weiter, ist man mittendrin in einer anderen, einsamen Welt, die so still ist und wo man sich wohl fühlt... Ich wundere mich eigentlich, dass dieses wunderschöne Fleckchen Erde nicht schon völlig entdeckt ist und sich viele Leute darin tummeln. Aber dies ist glücklicherweise nicht der Fall. Dort haben die Tiere und Pflanzen ihre Ruhe, und es ist, als wäre dort die Zeit stillgestanden. Dort ist es nicht schwer, Phantasie zu haben, denn der Zauber ist vorhanden...

Als ich an meinem letzten Geburtstag mein «neues Wägli» nach Jahren wieder einmal ging, hatte ich ähnliche Gefühle wie damals und war glücklich. Hier hat sich kaum ein Waldsterben sichtbar gemacht, jedes Felsstückchen ist noch an seinem Platz, der Bach rauscht und plätschert wie früher über die ausgewaschenen Steine, und ich dachte an Zwerge und Elfen ...

Wie oft waren wir früher im Wald und haben gespielt, Hütten gebaut, und einmal haben meine ständige Spielkameradin Jeannine und ich mit den «grossen» Buben Nielen geraucht und fanden uns dabei sehr erwachsen, und es schmeckte sehr scheusslich, und trotzdem fanden wir uns sehr gut! Viele Feste wurden in den Wald verlegt, sowohl von den Erwachsenen als auch von uns Kindern. Geburtstagspartys und an Ostern - das war das «Grösste» -versteckten meine und Jeannines Mutter die Ostereier im Wald. Überall glitzerten dann die Farben auf; in Astlöchern, unter Sträuchern, unter Laub und Pflanzen - die Spannung war immer riesengross.

Im Winter jedoch erwartete uns ein ganz anderes Ereignis: die Waldweihnacht der Pfadi Lachen. Plötzlich war jeweils «unser» ganzer Wald hell beleuchtet. Dies war das Zeichen für uns, uns schnell warm anzuziehen und schnell durch die Dunkelheit ins helle Lichtermeer der Kerzen zu tauchen. Das war eine so weihnachtliche Stimmung, mitten im sonst dunklen Wald zu sein, Lieder zu singen, zu beten, und wenn's immer kälter wurde, ans knisternde Feuer hinzurücken. Die Waldweihnacht gehörte für mich zur Weihnachtszeit, und ich erwartete sie jeweils schon im November mit Ungeduld.

So friedlich mein Wald für mich ist, so unheimlich empfinde ich ihn, auch heute noch, in der Nacht. Ich habe Angst vor den unbekannten Geräuschen und Schatten; sie lassen meine Phantasie schnell mit mir durchgehen. Die knorrigen Bäume werden zu gefährlichen Riesen, ein Knacken eines Astes- ist da jemand? Sagen sind bestimmt auch oft so entstanden, durch die Angst und Phantasie der Menschen...

Am Tag jedenfalls mag ich die Waldspaziergänge, sei es mit Hund oder Pferd, die übrigens, glaub ich, den Wald auch sehr schätzen. Die frische der Waldluft tut gut, und «mein» Wald gibt mir Kraft, und ich liebe ihn - und brauche ihn.

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